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Donnerstag, 19.06.2008. Wahre Patrioten wissen genau, was sich an diesem Tag zugetragen hat: Das Viertelfinalspiel zwischen Deutschland und Portugal.
Trotzdem wird das hier kein Bericht über ein Fußballspiel. Im Gegenteil. Es geht um zwei junge Erwachsene, die mit aller Macht versuchen, dem fürchterlichen Medienrummel zu entkommen. Eine schwere Bürde. Ein Ding der
Unmöglichkeit?
Mein Mitbewohner: Dreißig Jahre alt und wohl bald verheiratet - ein Informatiker, der seine Freizeit mit Computerspielen verbringt. Er fährt mich an: "Was? Ihr schaut euch das Spiel gar
nicht an? Wieso denn nicht?" "Ich hasse Fußball", erwidere ich. Ich: Fünfundzwanzig Jahre alt, Single, arbeitslos und versuche mich nach wie vor als Autorin. "Warum soll ich mir das ansehen?
Es interessiert mich nicht. Selbst wenn Deutschland ins Finale käme, würde ich mir das bestimmt nicht anschauen." Er kontert: "Ey, du weißt doch, ich bin auch kein Fußballfan. Aber hier geht es um das
geile Feeling. Um das Mitfiebern, um das Zusammensitzen mit Freunden. Jedenfalls macht das doch mehr Spaß, als hier blöd rum zu hocken."
"Wir bleiben ja nicht hier", wirft mein bester Kumpel amüsiert ein. Mein bester Kumpel: Sechsundzwanzig, schwul, fast schon mit seinem Freund verheiratet, Student und Musiker. "Wir gehen ins
Museum. In die Alte Nationalgalerie." "Ah. Und wieso geht ihr nicht morgen da hin?"
"Weil heute Donnerstag ist", entgegne ich. "Donnerstag ist Museumstag, freier Eintritt. Wer spielt denn überhaupt?" Das empörte Gesicht meines Mitbewohners spricht Bände. So weit, so gut.
Deutschland spielt. Umso besser. Dann dürften die Straßen ja wie leergefegt sein. Und die Ausstellungsräume wohl auch.
Richtig eingeschätzt. Auf dem Weg zur Museumsinsel begegnen wir nur wenigen, sympathisch
wirkenden Leuten. Was nicht heißen soll, dass alle Leute, die Fußball anschauen unsympathisch wären. Wir fühlen uns wohl unter den dilettantischen Außenseitern und tun einfach das, wozu wir Lust haben. Wir unterhalten
uns in unserem heimatlichen Dialekt: Rheinhessisch. Ich sage: "Gugge mo do. Is dir schon e mol uffgefalle, dass die ganze Leit hier all totaal entspannt wirke." Mein Kumpel stimmt mir zu: "Jo."
Das Museum ist allerdings gar nicht so leer, wie wir ursprünglich angenommen hatten. Scheinbar gibt es doch einige Leute, die den Abend lieber hier, als vor dem Fernseher oder der Großbildleinwand verbringen.
Wir sind entzückt. Die alte Nationalgalerie ist wirklich traumhaft schön. Faul wie wir sind, nehmen wir den Aufzug und beginnen unsere Tour durch die Reihen der Gemälde. Romantik, Biedermeier, Impressionismus.
Unser Kunstverständnis beruht auf persönlichem Geschmack und dem bisschen, was wir aus der Schulzeit noch wissen. Wir verweilen selten an einem bestimmten Werk um es näher zu betrachten. Vor allem den Biedermeier
bringen wir Kitschbanausen in einem Rekordtempo hinter uns. Schließlich haben wir nur zwei Stunden Zeit bis das Museum wieder schließt. Als Tochter eines Restaurators interessieren mich plötzlich vermehrt die schön
verzierten Rahmen. Die wertvollen Kunstwerke treten in den Hintergrund. Claude Monet, auf den ich mich am meisten gefreut hatte, ist eine bittere Enttäuschung. Ich sage: "Was en Fuppes. Die ham wohl nur die
hässlichste Bilder von dem bekomme." Mein schwuler Kumpel wird ungeduldig: "Kummscht du jetz endlich e mol, mer hann noch e ganzes Stockwerg vor uns. unds Museum macht glei zu."
Als wir unten
ankommen ertönt plötzlich eine kurze Sequenz aus Modest Mussorgskys Bilder einer Ausstellung. Es folgt eine freundliche Frauenstimme: "Sehr geehrte Damen und Herren. Das Museum schließt in wenigen Minuten. Wir
bitten Sie, die Ausstellungsräume zu verlassen." Und noch mal Mussorgsky. Aber uns fehlt noch ein ganzes Stockwerk! Wir wechseln entsetzte Blicke und wollen schon in Richtung Ausgang gehen. Wenige Minuten? Ein
stark dehnbarer Begriff. "Des schaffe mer noch", rufe ich prompt und zerre meinen Kumpel an einer Museumswärterin vorbei. Die Museumswärterin: Weiblich, circa Ende dreißig, vermutlich verheiratet und ihrer
Figur nach zu urteilen leidenschaftliche Köchin. Sie lächelt uns amüsiert, dennoch ein Stückweit verständnislos, an. Wir rennen durch die Ausstellungsräume, jedes Bild für einen Bruchteil einer Sekunde im Blick. Die
großen Werke bedeutender Künstler werden nur wenig länger gewürdigt. Unser Rheinhessisch kommt auf Touren: "Suppä, ganz doll, schee, wundärbaar." Vor ein oder zwei Bildern bleiben wir sogar drei bis fünf
Sekunden stehen. Immerhin. Wir haben am Ende alles gesehen.
Kurz vor dem Ausgang tritt uns ein Wärter in den Weg. Der Wärter: Circa fünfunddreißig Jahre alt, vermutlich bisexuell und unglücklich verheiratet, ein
glatzköpfiger Fitnessstudiogänger. Mir wird klar: Jetzt fliegen wir raus. Aber er lächelt uns freundlich an und sagt: "Es steht zwei zu eins." Mein Kumpel und ich wechseln ratlose Blicke. Was will der denn?
"Für Deutschland", betont er lächelnd und scheinbar davon überzeugt, uns damit einen wahnsinnig großen Gefallen zu tun. Mein Kumpel antwortet fast auf Rheinhessisch, schaltet aber schnell genug auf
Hochdeutsch um. Er bedankt sich unbeholfen während ich nur höflich lächelnd daneben stehe und meinen bissigen Kommentar ungesagt herunterschlucke. Wir ziehen weiter und sehen uns die letzten Bilder an. "Warum
kommt der auf die Idee, dass uns das Ergebnis interessieren würde?", frage ich, nachdem er schließlich außer Hörweite ist. "Wenn wir nur einen Funken für Fußball übrig hätten, wären wir doch nicht im Museum,
sondern bei irgend so einem Public Viewing Scheiß." "Ja, und wir müssten uns die blöden Kommentare von deinem Mitbewohner anhören." "Woher der Typ da wohl den Spielstand weiß?"
"Vielleicht schicken ihm seine Freunde regelmäßig SMS." "Ist das Spiel schon vorbei?" Wir wechseln panische Blicke. Adrenalinschübe kündigen sich an. Noch ist es nicht zu spät. Aber jetzt
müssen wir uns wirklich beeilen. Es ist unerlässlich wieder daheim zu sein, bevor besoffene Fußballverrückte die Straße zurück erobern.
Vor der Alten Nationalgalerie regnet es leicht und es ist bereits dunkel. Von weitem ist kurz ein wenig Gejubel zu hören. Noch ein Tor? "Doscht!", äußere ich mit trockenem Mund. Den ganzen Tag war es
unerträglich heiß. Viel zu heiß für Juni. Wir schlendern durch den Lustgarten und betatschen die riesige Granitschüssel, deren Entstehung wir in der Nationalgalerie auf einem Gemälde bewundert hatten.
Ich: "Stand des Ding schon immer do im Luschdgadde rum?" "Isch denge mo schon." "Gugge mol. Sinn des Einschusslöcher vum Kriech?" "Möschlisch."
"Hmmm. Hab so Doscht." Wir schlendern durch den angenehmen Sommerregen auf die andere Straßenseite. Während mein Kumpel mit seinem Freund telefoniert, hole ich mir eine überteuerte Limo an einer
Currywurstbude und lindere meinen schrecklichen Durst. Plötzlich zieht lautes Jubeln durch die Straßen. Und schon wieder ein Tor. Aber diesmal wohl für Deutschland.
Wir nehmen den nächsten Bus zum Alexanderplatz.
Hinein in die U-Bahnstation. Das Spiel wird gleich vorbei sein und wir legen keinen Wert darauf in den Strom der feiernden Fußballgemeinde zu geraten. Aber wir hatten uns fest vorgenommen, uns das Holocaustdenkmal auf
dem Heimweg anzuschauen. Im Dunkeln.
Auch wenn es etwas makaber erscheint und wir uns natürlich die ganze Zeit darüber bewusst sind, an welch grausame Vergangenheit der deutschen Geschichte dieses Denkmal
erinnern soll, tollen wir dennoch wie ausgelassene Kinder zwischen den großen und kleinen Steinblöcken hindurch. Die unheimliche Wirkung der Steine ist bei Nacht noch schlimmer, als am Tage. Und es kommt, wie es kommen
musste: Wir verlieren uns aus den Augen. Einsam und verlassen stehe ich zwischen den riesigen Steinblöcken und sehe mich um. Es ist sehr ruhig, zu ruhig. Angespannt lausche ich, immer in der Erwartung, dass mein
Kumpel gleich um die Ecke springen wird um mir einen Schock fürs Leben zu verpassen. Aber er kommt nicht. Dafür klingelt mein Handy. Er fragt: "Wo bist du?"
Ich sage: "Mitten drin. Und wo bist du?" "Ich bin wieder raus gegangen, weil ich dich nicht mehr gefunden hab."
Die ersten Feuerwerkskörper knallen bereits. Aber wir sind wieder in
Sicherheit. Und obwohl wir nicht eine einzige Sekunde des Spiels gesehen haben und es uns nicht im Geringsten interessiert, wissen wir ganz genau: Deutschland hat gewonnen. Drei zu zwei. Viertelfinale. Noch glauben alle
Fußballfanatiker, EM-Meister zu werden. Mein Kumpel und ich aber nicht. |
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